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Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) - Civic Innovation Platform

„Soziale KI-Innovationen sind noch längst nicht ausgeschöpft!“

Andreas Bethke, Geschäftsführer des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV), über die Potenziale von KI für Menschen mit Seheinschränkung.

Interview mit Herrn Bethke anhören:

Interview mit Herrn Bethke in der Textfassung:

Denkfabrik: Der DBSV unterstützt die Civic Innovation Platform als Kooperationspartner. Warum ist das Projekt für Ihren Verband von Interesse? Was erhoffen Sie sich von der Civic Innovation Platform?

Bethke: Die Plattform ist für uns interessant, weil sie beispielhaft auf Kooperationen setzt und gesellschaftlichen Nutzen in den Mittelpunkt stellt. Das gibt uns die Möglichkeit, unser Anliegen einzubringen, Innovationen barrierefrei – also zugänglich für Menschen mit Behinderung – zu gestalten. Außerdem kennen wir natürlich den Alltag von Menschen mit Behinderungen. Wir können selbst Lösungsansätze und Vorschläge beisteuern. Wir glauben, dass soziale Innovationen im Bereich von KI und Digitalisierung noch längst nicht ausgeschöpft sind.

Denkfabrik: Was muss bei guten KI-Anwendungen beachtet werden, damit sie von allen Menschen genutzt werden können?

Bethke: Erstens brauchen wir klare Regeln und Vorschriften. Wenn wir zum Beispiel an die Corona-App denken – das ist zwar nicht KI, aber eine digitale Anwendung – warum ist diese App barrierefrei umgesetzt worden? Ganz einfach: weil es bei der Ausschreibung explizit verlangt war. Bei den Rahmenbedingungen müssen wir also ganz klar auf Barrierefreiheit und Nutzbarkeit achten. Dann müssen wir es schaffen, mehr Menschen zu qualifizieren, damit diejenigen, die die Anwendungen schließlich umsetzen, auch das nötige Hintergrundwissen haben. Und wir müssen auf der Bewusstseinsebene vorankommen: Gesellschaft sollte insgesamt als inklusiv und divers begriffen werden. Wenn wir darauf hinwirken, können wir schließlich auch das erfüllen, was hinter dem Begriff „Civic“ steckt: nämlich Kooperationen zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren. Wenn wir das alles umsetzen, können wir gute Innovationen schaffen.

"Gesellschaft sollte insgesamt als inklusiv und divers begriffen werden. Wenn wir darauf hinwirken, können wir schließlich auch das erfüllen, was hinter dem Begriff 'Civic' steckt: nämlich Kooperationen zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren."

Andreas Bethke

Denkfabrik: Wie bewerten Sie das generelle Potenzial von KI, um blinde Menschen zu unterstützen? Werden technologische Innovationen in Zukunft einen ähnlich revolutionären Charakter haben wie zum Beispiel die Brailleschrift?

Bethke: Ich glaube, das haben sie schon. Ich denke zum Beispiel an die sogenannten Screenreader, die Displayinhalte interpretieren können und so für blinde und sehbehinderte Menschen die Möglichkeit schaffen, mit Computerprogrammen zu arbeiten, die eigentlich nur visuell ausgelegt sind. Da ist die Software auf der Basis von Lernprozessen schon ziemlich weit entwickelt. Ohne Screenreader und OCR, also Texterkennung, könnte ich meinen Arbeitsplatz gar nicht ausfüllen. Künftig können auch bei den Themen Sprachsteuerung oder autonomes Fahren Potenziale liegen, die eine vergleichbare Verbesserung wie die Brailleschrift bewirken können.

Denkfabrik: Inzwischen gibt es auch eine App, die mithilfe einer Brille visuelle Informationen in akustische Signale umwandelt. Das soll dabei unterstützen, die Umgebung wahrzunehmen. Was halten Sie davon?

Bethke: Es gibt seit Jahren immer wieder neue Entwicklungen, die mit Umwelterkennung arbeiten und seheingeschränkte Menschen in der Mobilität unterstützen. Ich selbst nutze das bislang nicht, aber für viele Menschen sind solche Ergänzungen bereits sehr hilfreich.

Denkfabrik: Wieso wenden Sie diese Möglichkeit nicht an?

Bethke: Da ich von Geburt an blind bin, habe ich schon als Kind gelernt, mein Gehör einzusetzen und mich mit dem Blindenstock zu orientieren. Das heißt, ich nutze die Ohren bereits, um die Umwelt wahrzunehmen. Wenn ich dann noch die Informationen, die über die Brille kommen, akustisch verarbeiten muss, ist es nicht einfach, einen guten Mix hinzubekommen. Das endet schnell in einem Geräuschbombardement. Für mich sind eher Informationen, die mich bei der Navigation unterstützen, hilfreich. Also zum Beispiel, wenn mir angesagt wird, dass ich gerade an einer Bushaltestelle meiner gewünschten Buslinie entlangkomme oder an Ampeln, wenn ich eine Straße überqueren will. Orientierungstechniken hängen stark davon ab, zu welchem Zeitpunkt man erblindet oder eine Seheinschränkung erwirbt. Ist man dann überhaupt noch in der Lage, andere Sinne zu trainieren oder muss man auf technische Hilfe zurückgreifen? Da sind die Bedarfe sehr unterschiedlich. Auch Vorgeschichten und Lebensgewohnheiten spielen natürlich eine Rolle.

Denkfabrik: Bei Navigationssystemen für sehbehinderte Menschen gelten vor allem Innenräume als Herausforderung, da hier öffentliche Daten fehlen.

Bethke: Richtig. Dieser Bereich wird, denke ich, ganz wichtig werden. Genauso wie die Orientierung zu Gebäuden hin. Wenn wir zum Beispiel wieder an das Thema autonomes Fahren denken, dann stellt sich die Frage, wie bewältige ich die „letzte Meile“? Das bedeutet, wie komme ich zu meinem tatsächlichen Zielgebäude, wenn ich nicht mehr den Busfahrer fragen kann. Der Bedarf, dafür gute KI-Lösungen zu entwickeln, ist sehr groß und wird in Zukunft noch viel größer werden.

Denkfabrik: Inwiefern können KI-Anwendungen Menschen mit Seheinschränkung bei der Integration in den Arbeitsmarkt unterstützen?

Bethke: Ich würde mir wünschen, dass wir Fortschritte machen, visuell gelayoutete Materialien automatisiert in barrierefreie Dokumente umzuwandeln. Das heißt, dass automatisiert Strukturen, wie Überschriften, erkannt und Inhalte interpretiert werden, um daraus dann barrierefreie Dokumente abzuleiten. Auch müssen wir es schaffen, die Oberfläche von Webseiten intuitiver nutzen zu können. Heute müssen sich Menschen, die nicht sehen können, noch von Link zu Link oder von Überschrift zu Überschrift klicken. Wenn es KI-Lösungen gäbe, diese Wege zu verkürzen oder eine inhaltliche Interpretation der Webseiten anzubieten, würde das die Arbeitseffizienz erheblich verbessern. Auch automatisierte Bildbeschreibungen würden uns weiterhelfen.

Denkfabrik: Wenn Sie sich selbst eine KI-Anwendung wünschen könnten, welche wäre das dann?

Bethke: Fasziniert wäre ich, wenn es im Bereich virtueller Realitäten haptische Anwendungsmöglichkeiten gäbe, die es mir ermöglichen, Dinge, die eigentlich nur zu sehen sind, anzufassen oder abzutasten. Das wäre für mich eine wirkliche Revolution! Etwas naheliegender und kurzfristiger erreichbar sind vielleicht Anwendungen, die auf einer Sprachsteuerung basieren, wie wir das beispielsweise bereits vom Raumschiff Enterprise kennen. Wenn wir zum Beispiel dem Computer einfach sagen könnten: Ich hätte gerne eine neue Hose. Was ist denn gerade auf dem Markt? Was ist überhaupt gerade Trend? Was würdest du mir empfehlen? Und der Computer würde mir dann ein paar Angebote machen. Das heißt: Wenn wir also die Möglichkeit bekommen, die digitale Welt rein sprachgesteuert zu erfassen, wäre das wunderbar!

Denkfabrik: Herr Bethke, vielen Dank für das Gespräch.

Andreas Bethke

Andreas Bethke ist Diplombiologe und seit 2004 Geschäftsführer des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV). Er ist Mitglied im Inklusionsbeirat der Bundesregierung.