Denkfabrik: Wie kann Künstliche Intelligenz (KI) so eingesetzt werden, damit sie die Gesellschaft insgesamt voranbringt? Wie schaffen wir es, dass aus technologischem auch ein sozialer Fortschritt wird? Für die Denkfabrik steht fest: Das kann nur gemeinsam gelingen. Mit der Civic Innovation Platform möchte sie deswegen Menschen mit ganz unterschiedlichen Perspektiven und Hintergründen zusammenbringen. Gemeinschaftlich sollen sie daran arbeiten, KI-Anwendungen zu entwickeln, die das Wohl des Menschen in den Mittelpunkt stellen. Neben Kreativität kommt es da vor allem auf gute Zusammenarbeit an und in diesem Sinne freuen wir uns sehr, dass das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation die Plattform unterstützt. Wie genau es zu dieser Kooperation kam, darüber möchten wir heute mehr erfahren. Dazu begrüße ich Herrn Dr. Matthias Peissner, den Leiter des Forschungsbereiches Mensch, Technik, Interaktion. Guten Tag, Herr Peissner!
Matthias Peissner: Hallo!
Denkfabrik: Herr Peissner, das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation unterstützt die Civic Innovation Platform als Kooperationspartner. Wie kam es zu dieser Kooperation und warum ist das Projekt für Sie persönlich und für Ihr Institut von Interesse?
Matthias Peissner: Wir sind ja schon seit vielen Jahren auch eng mit dem BMAS verbunden in verschiedener Hinsicht. Vor allem natürlich, weil wir auch eine führende Institution zum Thema zukünftige Arbeit, Arbeitgestaltung sind und da immer auch nicht nur die, entweder die Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberperspektive sehen, sondern immer bemüht sind, eben auch beide Perspektiven in Einklang zu bringen. Deswegen wurden wir da wohl auch angefragt. Im Bereich KI sind wir seit sehr vielen Jahren unterwegs beim Fraunhofer IAO. Häufig im Unternehmenskontext, also häufig beauftragt dann natürlich auch das Management. Bei Unternehmen ist von der technischen Seite das Ziel, Produktivitätssteigerungen zu erzielen oder eine höhere Servicequalität hinzubekommen durch Möglichkeiten, die sich durch KI eröffnen. Für uns als Arbeitswissenschaftler ist es natürlich trotzdem wichtig, dass diese KI-Systeme trotzdem auch vom Menschen hergedacht sind. Letztendlich haben neue Technologien ja auch nur dann tatsächlich eine Berechtigung, wenn sie auch unser Leben als Menschen bereichern oder verbessern können. Bei den Unternehmen steht das nicht immer ganz oben auf der Agenda. Wir sehen eher sogar vielleicht sogar eine gewisse Frontenbildung; ganz viele Mitarbeitende oder auch Gewerkschaftsvertreter haben das Gefühl, dass die Digitalisierung und die Entwicklungen rund um KI eher den Unternehmen dienen und dass sie sich da etwas abgehängt fühlen. Sie haben Angst vor der Entmenschlichung ihrer Arbeitsplätze, sie haben Angst vor gesellschaftlichen und sozialen Wirkungen, aber auch ganz konkret vor Jobverlust und vielleicht auch vor einer Entwertung ihrer Fähigkeiten. Ich denke es ist ganz wichtig, dass wir zeigen, dass es sich bei KI um sehr mächtige Technologien handelt, die aber auch sehr viel Gutes bewirken können. Also einerseits für das Klima, für die Nachhaltigkeit aber auch für Inklusion und Teilhabe. Und dass KI damit letztendlich auch ganz viele Potenziale bietet, um das menschliche Leben und Erleben deutlich zu bereichern.
Denkfabrik: Und das ist das, was Sie als Institut in die Plattform mit einbringen können?
Matthias Peissner: Ja, zum einen sind das natürlich die technischen Erfahrungen. Wir forschen selbst an KI-Technologien und KI-Lösungen und wir unterstützen Unternehmen dabei, die einzuführen. Und wir haben trotzdem auch die ganzheitliche Perspektive. Wir sehen also nicht nur eben die wirtschaftlichen Belange, sondern denken auch vom Menschen und von der Gesellschaft her. Das andere ist, dass wir natürlich auch einbringen können: etliche Kontakte. Ich selbst habe schon an einer Plattform eines großen internationalen Projektes mitentwickelt und auf die Beine gestellt, wo es darum geht, Technologien und technologische Komponenten zur Verfügung zu stellen, die genutzt werden können, um barrierefreie IT-Lösungen zu entwickeln. Und dann haben wir natürlich auch unsere Netzwerke, auch über unser KI-Fortschrittszentrum. Das ist eine Initiative hier in Baden-Württemberg, wo es darum geht, KI auch für den Mittelstand zugänglich zu machen. Dort haben wir mit über 100 Leuten Kontakt. Ich denke, dass wir dort auch sehr viel über dieses Networking auch viele Kontakte und neue Player miteinbringen können. Eine solche Plattform lebt ja letztendlich auch von den Akteuren und von einer sehr starken Interaktivität.
Denkfabrik: Jetzt haben Sie haben schon etwas über Ihre Arbeit und die Einstellung zu KI gesprochen. Vielleicht können Sie das noch ein bisschen konkretisieren? Es sind ja ganz unterschiedliche Bereiche, die Sie beraten hinsichtlich KI. Das sind zum einen Unternehmen in unterschiedlicher Größe, aber auch Institutionen und Einrichtungen aus dem öffentlichen Sektor. Welche Rolle spielt in diesen unterschiedlichen Bereichen aktuell KI und gibt es da Unterschiede bei den Anforderungen?
Matthias Peissner: Im Moment würde ich sagen, ist noch ein bisschen eine Suchphase. Unternehmen sind auf der Suche, was können sie jetzt mit KI machen. Das betrifft auch den öffentlichen Bereich. In den meisten Fällen geht es doch noch um Rationalisierung und um Automatisierung. Und auch um die Frage, wie kann man zukünftige Bedarfe, Arbeitslasten und Ressourcenanforderungen möglichst gut vorhersagen. Durch die Pandemie ist noch ein weiterer sehr großer Nutzen von Digitalisierung und KI ersichtlich geworden: Wir haben im letzten Jahr in manchen Unternehmen gesehen, dass wir extreme Schwankungen in der Auslastung hatten. Beispielsweise in der Produktion oder generell bei dem Personalbedarf. Das ging von zehn Prozent im Frühjahr, im Frühsommer bis zu 300 Prozent im vierten Quartal. Diese Flexibilität, die in der Zukunft immer häufiger und immer extremer gefordert sein wird, die werden wir auf Dauer auch nur über intelligente Digitalisierung in den Griff bekommen. Ich denke, dass in diesen Bereichen, also Rationalisierung, Flexibilisierung, Automatisierung, da sehe ich eigentlich kaum Unterschiede zwischen der privaten Wirtschaft und den öffentlichen Institutionen. Wo ich eher für die Zukunft die Themen und die Schwerpunkte sehe, ist, dass wir eigentlich nicht mehr nur drauf schauen sollten, wie können wir das, was wir heute schon tun vielleicht noch ein bisschen schneller, vielleicht noch ein besser machen, vielleicht noch ein bisschen flexibler, sondern, dass wir auch die Potenziale von KI viel mehr explorieren in dem Sinne, was kann ich denn zum Beispiel durch die intelligente Integration verschiedener Daten und intelligenter Aufarbeitung verschiedenster Datenquellen, was kann ich denn auf dieser Grundlage für neue interessante Services und Produkte anbieten? Also, welche neuen Geschäftsmodelle ergeben sich beispielsweise durch KI. Also nicht nur dieses kontinuierliche Verbessern, sondern vielleicht auch eine stärkere disruptive Denkweise, die natürlich besonders gefragt sein wird.
Denkfabrik: Haben Sie ein Beispiel? Was könnte das sein? Schwebt Ihnen da schon etwas Konkretes vor?
Matthias Peissner: Ich habe da vielleicht jetzt kein ganz konkretes Beispiel. Ich möchte vielleicht nur eine Analogie bringen. Also im Prinzip ist es ein bisschen wie die Entwicklung im Smartphone-Bereich, wie wir sie vor zehn, 15 Jahren gesehen haben. Dass es eben durch die Öffnung des Telefons durch die Firma Apple im Sinne einer App-Plattform plötzlich ein ganz anderes Produkt geworden ist, mit ganz anderen Geschäftsmöglichkeiten. So etwas in dieser Art. Es ist leider so, dass wir in Deutschland oft momentan über den Teich rüber gucken müssen, um solche neuen disruptiven Modelle zu sehen und da, denke ich, sollten wir auch gucken, dass wir in der Zukunft mehr Innovationen in völlig neuen Bereichen hinbekommen können.
Denkfabrik: Wenn Sie es gerade ansprechen: Wie kann man denn da den Standort Deutschland stärken?
Matthias Peissner: Das ist eine ganz schwierige Frage, damit beschäftigen sich ganz viele Menschen und ganz viel wird getan, um Deutschland und auch deutsche Städte attraktiver zu machen für Start-Ups. Ich denke, da läuft schon viel in die richtige Richtung. Ich denke auf der anderen Seite ist es aber schon so, dass wir in Deutschland auch noch einen gewissen kulturellen Wandel brauchen. Wo auch mal ein Scheitern, wo auch mal ein Ausprobieren im Lebenslauf sich nicht so negativ auswirkt. Ich glaube, das ist eine Entwicklung, die unterwegs ist, aber da könnten wir, glaube ich, noch ein bisschen nachlegen.
Denkfabrik: Welche Hoffnungen verbinden Sie denn mit KI, für eine fairere und sozialere Arbeitswelt?
Matthias Peissner: Häufig war bislang die Technik eher eine Hürde auf dem Arbeitsmarkt. Man musste bestimmte technische Kompetenzen mitbringen, bestimmte Kenntnisse mitbringen, um bestimmte Arbeitsaufgaben zu übernehmen. Das wird auch in der Zukunft natürlich sich nicht komplett verändern, aber ich erhoffe mir schon, dass durch KI die Technik auch ein Enabler werden kann. Gerade auch im Hinblick auf Inklusion und Teilhabe, dass zum Beispiel durch Interaktionsmöglichkeiten wie Gestenerkennung, durch automatische Übersetzungen beispielsweise. Dass intuitive Interaktionsmöglichkeiten entstehen, die Menschen mit einer anderen Muttersprache, die Menschen mit Einschränkungen in jeglicher Hinsicht so gut unterstützen können, dass sie trotzdem einen wertvollen Beitrag leisten können. Im Prinzip diese Beschäftigungsfähigkeit, dass wir die stärken können. Ein anderes Thema aus meiner Sicht ist vielleicht auch das Thema bessere Entscheidungen. Es wird ja sehr viel über KI im Human Ressources-Bereich gesprochen. Dort wird vor allen Dingen auch darüber gesprochen, welche Biases, welche Verzerrungen dort entstehen können. Ich denke, dass wir heute ganz viele Verzerrungen und Biases haben, gerade wenn wir an die Gleichstellung von Mann und Frau denken oder auch an teilweise Benachteiligung von Menschen aus anderen kulturellen Hintergründen. Ich denke, dass wir das Ganze umdrehen können und vielleicht durch Entscheidungsempfehlungen, durch Mechanismen der KI zu neutraleren, objektiveren und damit auch faireren Entscheidungen kommen können, wenn wir sie nur verantwortungsvoll auch einsetzen.
Denkfabrik: Sie arbeiten jetzt konkret an Lösungen, die ein möglichst effizientes Zusammenspiel von Menschen und Maschinen ermöglichen sollen. Worauf kommt es bei der Entwicklung von KI an, damit sie für Menschen gut funktioniert?
Matthias Peissner: Wenn man sich die Frage nach der Entwicklung anschaut, bevor man die konkreten Gestaltungsmerkmale anguckt, denke ich, ist bei der Entwicklung das Prinzip der Partizipation ein ganz entscheidendes. Dass wir wirklich die betroffenen, in irgendeiner Weise interagierenden Menschen, die später mit der KI-Lösung später zu tun haben, dass wir die wirklich in die Entwicklung und Gestaltung miteinbeziehen. Und auch in Zusammenarbeit mit diesen Menschen diese Produkte, diese Lösungen optimieren und ihnen auch gewisse Mitgestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Und wenn wir dann auf die Lösungen selbst schauen, ich denke, ein ganz entscheidender Aspekt ist das Thema Transparenz und auch die Erklärbarkeit. Dass Menschen verstehen, was da eigentlich letztendlich passiert. Dass sie zumindest auf einem übergeordneten Niveau vielleicht auch die Wirkungsweise oder die Funktionsweise der Systeme verstehen. Dass transparent wird, welche Daten genutzt werden. Dass vielleicht auch erklärbar wird, für die Menschen, wie Entscheidungen zustande kommen und wie sie selbst diese Entscheidungen auch beeinflussen können. Und das ist aus meiner Sicht der zweite große wichtige Block. Eine ganz entscheidende Anforderung ist letztendlich auch die Kontrollierbarkeit durch den Menschen oder zumindest Einfluss und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Also dass zum Beispiel ein Expertensystem, das mir sagt, was ich als nächstes tun sollte oder was für eine Entscheidung ich treffen sollte, dass ich als Mensch die Möglichkeit habe zu sagen, ich bin ein Experte, ich kenne mich da gut aus und ich weiß, dass deine Empfehlung vielleicht gerade nicht so gut ist, liebes System, und ich würde empfehlen, lass es uns mal so und so machen. Dass ich also eine Möglichkeit habe, dieses Wissen in das System miteinzubringen. So dass das System und Mensch, also das soziotechnische System, gemeinsam permanent wachsen und weiterlernen kann.
Denkfabrik: Eine kurze Nachfrage zu der Entwicklung: Wie kann das konkret aussehen, dass Menschen miteinbezogen werden, die es betrifft? Wie kommt man an die Bedarfe wirklich heran?
Matthias Peissner: Ich denke, es ist mit KI-Systemen auch nicht so viel anders, wie mit herkömmlichen Systemen. Es gibt unter dem Schlagwort human-centered design oder menschenzentrierte Gestaltung, gibt es auch auf ISO-Ebene standardisiert, gibt es Vorgehensweisen, gibt es Prozessmodelle und auch Methoden, wie man das am besten macht. Letztendlich startet eine Entwicklung immer damit, dass ich mir den Nutzungskontext mal genauer ansehe. Dass ich mir anschaue, was habe ich denn für Nutzergruppen, was haben die für Vorkenntnissen, was haben die für Erfahrungen, aber auch, was haben die vielleicht für Wünsche, was haben sie selbst für persönliche Ziele, was bringen die an Fähigkeiten und an Fertigkeiten und vielleicht auch an Schwächen mit ein. Auf der anderen Seite aber auch das Umfeld, das organisatorische Umfeld, also dass ich erst einmal verstehe, in welchem Kontext wird es eigentlich genutzt. Dass ich dann vielleicht auch über Interviews und Beobachtungen den heutigen Stand ein bisschen genauer verstehe, um auch zu verstehen, was ist denn den Leuten eigentlich wichtig. Und dass ich dann nicht mich ins stille Kämmerchen zurückziehe, um ein System fertig zu entwickeln und dann hier habt ihr es, sondern dass ich dann sehr früh im Gestaltungsprozess letztendlich mit ersten Entwürfen, mit ersten Prototypen wieder den zukünftig Betroffenen die Möglichkeit gebe, das System einmal auszuprobieren oder die Entwürfe einmal auszuprobieren und ihr Feedback einzubringen und selbst Optimierungsvorschläge, eigene Gestaltungsansätze mit in die Entwicklung einzubringen. Also die Idee von menschenzentrierter Gestaltung oder human-centered design ist letztendlich, dass der zukünftige Nutzer oder die Nutzenden, dass die wirklich ein integraler Bestandteil des Designteams sind und dass man das wirklich auch so lebt im Gestaltungs- und Entwicklungsprozess, dass sie permanent oder zumindest in einem kontinuierlichen Prozess auch miteinbezogen sind. Zumindest im Sinne einer gewissen Repräsentation.
Denkfabrik: Wie muss sich das Mindset von Menschen ändern, um gut mit Maschinen interagieren zu können? Wie kann das gelingen? Was kann der Mensch einbringen?
Matthias Peissner: Ich glaube ein großes Problem ist momentan, dass wir über die Medien ein Bild von KI kommuniziert bekommen, das vielen Leuten Angst macht. Von entmenschlichten Robotern, bewaffneten Drohnen oder Superbrains, die uns die Jobs wegnehmen. Ich glaube, es wird sich für die normalen Nutzenden eher schleichend und kontinuierlich verändern. Wir sind mittendrin in dieser Entwicklung. In unseren Smartphones haben wir bereits ganz viele KI-Anwendungen verbaut, beispielsweise in der Kamera die uns helfen gute Fotos zu machen oder in Kartensystemen, die alle selbstverständlich als Werkzeug genutzt werden. So ähnlich wird es sich sicherlich in den nächsten Jahren im Arbeitskontext weiterentwickeln. Wir werden Vorhersagen haben, welche Produkte sich in welcher Anzahl verkaufen oder wie sich bestimmte Bedarfe in der Produktionshalle entwickeln werden. Wir werden diese Informationen nutzen, einen Trend daraus machen und unsere Entscheidungen treffen. Es wird nicht so viel vom Mindset notwendig sein außer, dass wir vielleicht eine positivere und realistischere Haltung gegenüber diesen neuen Technologien bekommen.
Denkfabrik: Wenn Sie an ihren konkreten Arbeitsalltag denken, wo fallen Ihnen Beispiele für sozial innovative KI-Anwendungen ein, im Sinne des Allgemeinwohls?
Matthias Peissner: Gemeinwohl muss es ja nicht unbedingt im Arbeitskontext sein. Mir ist aber auch etwas zum Arbeitskontext eingefallen. Beim Thema barrierefreie IT-Systeme gibt es einiges Interessantes. Beispielsweise Blicksteuerung und Gestenerkennung, was ja bereits genannt wurde. Besonders motorisch eingeschränkten Nutzenden kann dies helfen, deutlich besser mit IT-Lösungen umzugehen. Aus dem Arbeitskontext gibt es das Thema des Wissensaufbaues. Wir werden in den nächsten Jahren etliche Kollegen in den Ruhestand verlieren, die eigentlich Träger des Know-hows sind. In der Produktion oder genereller in der Industrie ist das Thema technisches Know-how schon ein wichtiger Wettbewerbsfaktor. Besonders in der Produktion, wo immer mehr automatisiert wird ist der Mensch genau dann gefragt, wenn etwas nicht nach Plan läuft oder ein Fehler auftritt. Dann ist die Idee, dass wir das Wissen der Expert*innen, die diese Probleme lösen können, gerne anzapfen möchten, und sie bitten, ihr Wissen bereitzustellen. Somit können andere Menschen davon profitieren und es wächst ein body of knowledge im Unternehmen. Solche Systeme sind bereits 2000 – 2010 in Unternehmen unterwegs gewesen unter dem Schlagwort Wissensmanagement, das hat aber nicht so richtig funktioniert, weil die Leute das nicht als ihre primäre Aufgabe sahen, Anleitungen zu schreiben und auch gewisse Hemmungen da waren, Wissen zu teilen. Man möchte sich ja nicht entbehrlich machen. Mit KI-Lösungen können wir die Barriere deutlich senken, wir könnten erkennen, was machen diese Expertinnen und Experten, um diese Probleme zu lösen. Über Sensorik in der physischen Welt und in Software-Systemen. Dann könnten wir den Expertinnen und Experten noch die Möglichkeit bieten, selbst Erläuterungen hinzuzufügen. Über Sprache, ein Video oder Text. Diese kleinen Lösungsstrategien, die wir dort abspeichern, würden in einer Wissensdatenbank reinlaufen, dort können sie auf Funktionalität überprüft, bewertet und vielleicht sogar teilautomatisch aufbereitet werden. Dafür braucht man dann vielleicht noch eine Redaktion, die das ganze aufbereitet, damit in der Zukunft alle auf dieses Wissen zurückgreifen können. Das ist ein schönes Beispiel was zeigt, was der Mensch einbringen muss: Das Wissen. Wir werden ohne menschliches Wissen und Erfahrungswissen mit den besten KI-Lösungen wenig anstellen können. Wir brauchen dafür eine sehr vertrauensvolle Umgebung und auch eine Identifikation der Mitarbeitenden mit den Zielen des Unternehmens. Wir brauchen auch entsprechendes Commitment der Unternehmensführung damit die Mitarbeitenden nicht das Gefühl haben, sie stellen ihr Wissen bereit und stehen dann vor der Tür. Das alles sind ganz wichtige Anforderungen, die in diesem Zusammenhang mitreinspielen. Man sieht also, dass es dann nicht in erster Linie um die technische Realisierung geht, sondern um den Unternehmenskontext, das kulturelle und das organisatorische was gegeben sein muss.
Denkfabrik: Spannend. Ist das ein konkretes Beispiel, an dem sie arbeiten?
Matthias Peissner: Das war ein Projekt, das wir mit insgesamt acht Unternehmen aus verschiedenen Branchen durchgeführt haben. Das ist nicht komplett umgesetzt, es gibt noch etliche offene Baustellen. Solche und ähnliche Systeme werden aber gerade häufig eingeführt und ausprobiert und das ist letztendlich auch die Richtung, wo sehr viel gerade passiert. Ich weiß von keinem System, dass schon so komplett automatisiert ist, wie ich es berichtet habe, aber es wird an vielen Stellen daran gearbeitet und erste Lösungen sind unterwegs.
Denkfabrik: Wie bewerten sie das Potenzial von KI-Anwendungen, Menschen mit psychischen Hilfsangeboten zu unterstützen?
Matthias Peissner: Grobe Hinweise können schon hilfreich sein, besondere psychische Belastungen oder Stresssituationen zu erkennen und dann entsprechend darauf zu reagieren. Oft ist es auch der bessere Zwischenschritt, dass wir das nicht nutzen, um Systeme direkt darauf anzupassen, sondern dass wir das den Menschen zurückspiegeln, so dass sie bewusster mit diesen erkannten Zuständen umgehen können. Ähnlich wie wir es heute von Fitness-Apps kennen, könnte das Thema mentales und psychisches Wohlbefinden ein ganz wichtiger nächster Schritt sein. Durch die Fitness-Apps sehen wir, dass sich Menschen viel bewusster bewegen, darauf achten wie viele Schritte sie täglich gehen und vieles mehr. Wir arbeiten z. B. gerade an Lösungen, die erkennen, wie viele positive und negative Erlebnisse ich jeweils an einem Tag habe. Klar ist die Frage, was man tun kann, um es zu optimieren aber allein schon die Bewertung, dass es mir bei einer bestimmten Tätigkeit besonders gut oder schlecht geht, kann schon helfen den Arbeitsalltag besser zu organisieren und das Leben bewusster auszurichten.
Denkfabrik: Entsteht dadurch nicht auch ein Optimierungsdruck? Besteht die Gefahr, dass KI irgendwann den Psychologen ersetzt?
Matthias Peissner: Das wollen wir sicherlich nicht. Ich halte es auch für sehr gefährlich, wenn man versucht, ein therapeutisches Gespräch oder eine Behandlung durch ein KI-Gespräch komplett zu ersetzen. Aber es kann eine hilfreiche Ergänzung sein. Wenn man in therapeutischer Behandlung ist, wird man nicht in täglichen Kontakt stehen, aber man kann ein technisches System nutzen, um einfach den Therapieprozess zu unterstützen mit bestimmten Übungen und Denkweisen, Bewusstseinsaspekte verstärkt und eintrainiert werden. Generell auch beim Thema Pflege und der Rolle von robotischen und KI-Systemen, treten ähnliche Fragestellungen auf, wie weit Technik den Menschen ersetzen sollte. Ich bin der Meinung, dass diese Diskussion wichtig ist aber nicht beherrschend sein sollte. Es geht aus meiner Sicht nicht in erster Linie darum, Möglichkeiten zu entdecken, wie man den Menschen substituieren kann, sondern Möglichkeiten zu finden, wie der Mensch durch so ein System mehr Autonomie und Kompetenzerleben bekommen kann. Diese Diskussionen, ob das menschenwürdig sei, wenn man von einem Roboter gepflegt wird, lenken aus meiner Sicht von dem positiven Potenzial der Technik ab.
Denkfabrik: Wenn Sie es zusammenfassen, welche Rahmenbedingungen müssen Ihrer Erfahrung nach bei Forschung und Entwicklung gegeben sein, um eine vertrauenswürdige und menschenzentrierte KI zu ermöglichen?
Matthias Peissner: Es muss ein explizit erklärtes Ziel im Prozess sein. Dass es in einem Projekt nicht nur um Produktivitätssteigerung geht, sondern es muss auch als Ziel definiert sein, dass wir den Arbeitsalltag der beispielsweise Sachbearbeitenden verbessern. Dazu muss es aber messbar gemacht werden. Wir brauchen messbare Größen und Maßnahmen, Gestaltungshinweise wie man das entsprechend umsetzen kann.
Denkfabrik: Vielen Dank. Spannende Einblicke!